Anonymes Bewerbungsverfahren – Vor- und Nachteile

Vanessa Lellig
April 2024

Sicherlich saßen Sie bereits einmal beim Fotografen, haben in die Kamera gelächelt und anschließend das gelungenste Foto auserkoren, um es Ihren Bewerbungsunterlagen beizufügen. So weit, so gewöhnlich.

Was aber, wenn dieses Bild ausschlaggebend dafür ist, ob Sie einen Job bekommen oder nicht?

Oder wenn gar Ihr Name beeinflusst, welche berufliche Laufbahn Sie einschlagen werden?

Und was kann dafür getan werden, dass solche äußeren Gegebenheiten keine Auswirkung darauf haben, welche Bewerbenden in die engere Auswahl genommen werden?

Vorurteile – was sie sind und was sie bewirken

So ungern wir es auch hören möchten: Wir alle haben Vorurteile. Auch Sie. Und wir. Und Recruiter*innen und alle anderen Personen, die Entscheidungen zur Einstellung von neuen Mitarbeiter*innen fällen. Weil wir alle Menschen sind, die von einer gewissen Erziehung geprägt wurden, die Erfahrungen gemacht haben und in einer von bestimmten Bedingungen dominierten Gesellschaft aufgewachsen sind.

Das hat Auswirkungen auf unser Miteinander als Menschen in einer Gesellschaft oder in anderen Kleingruppen, wie beispielsweise Unternehmen. Um dem entgegenzuwirken, kann man versuchen, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu sein, und sie beständig hinterfragen. Das hilft dabei, Vorurteilen ihren Einfluss zu nehmen und neutraler auf Dinge zu blicken.

Doch was sind Vorurteile eigentlich?

Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff „Vorurteil“ negative oder positive Zuschreibungen jemandem oder etwas gegenüber, von denen jemand trotz (logischer, faktenbasierter) Gegenargumente nicht abweicht.

Die Vorurteilsforschung geht da deutlich mehr in die Tiefe und definiert Vorurteile über ihre soziale Unerwünschtheit. Vorurteile sind zudem nicht absolut, sondern variieren je nach Wissens- und Moralstandards einer Gesellschaft. Das erklärt, dass je nach sozialer Gruppe gewisse Urteile über jemand oder etwas als richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, human oder inhuman gelten.

Nun aber genug der Theorie:

Vorurteile im Recruiting-Prozess und wieso sie ein Problem sein können

In einer Studie von 2016 wurden Bewerbungen an deutsche Firmen geschickt, denen Fotografien von derselben Person beilagen. Anhand dieser Person wurden drei Identitäten getestet: 1. mit einem deutschen Namen, 2. mit einem türkischen Namen und 3. mit einem türkischen Namen und zudem Kopftuch tragend.
Die meisten Rückmeldungen bekam die Identität mit dem deutschen Namen (18,8%), die wenigsten die dritte Kopftuch Tragende mit dem türkischen Namen (4,2%). Bei höheren Positionen fiel die Quote sogar noch schlechter aus.

Diese Form (und auch weitere Formen) der Diskriminierung anzugehen, ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Klar ist, dass dieser Prozess langwierig ist, wahrscheinlich eine Sache von Jahren oder gar Jahrzehnten, und auch von der Politik mitgetragen werden muss und teilweise schon wird.

Eine Diskriminierung im Bewerbungsprozess aufgrund von persönlichen Merkmalen, wie Herkunft, Ethnie, Glauben u. Ä., ist also in erster Linie natürlich für diejenigen belastend, die es betrifft, aber auch gesellschaftlich verfestigt sie Gräben, verschließt Türen (auf beiden Seiten!) und verhindert Diversität. Das AGG verbietet Diskriminierung ausdrücklich, sodass Unternehmen rechtlich angreifbar sind und Geschädigte Anspruch auf Schadensersatz haben, wenn sie eine Diskriminierung nachweisen können.

Methoden für anonyme Bewerbungsverfahren

Auf den ersten Blick scheint ein komplett anonymes Bewerbungsverfahren unmöglich, denn einen Namen hat schließlich Jede*r von uns – und wie wir oben gesehen haben, kann schon dieser Recruiting-Entscheidungen beeinflussen.

Doch es kann gelingen, indem Sie beispielsweise keinerlei persönliche Daten abfragen oder nachträglich anonymisieren, damit sie nicht Teil des Recruiting-Prozesses werden. Prinzipiell gehören hierzu: der Name, die Anschrift, das Geschlecht, die Religion bzw. Konfession, das Alter, ein Foto, der Familienstand, Hobbies, Jahreszahlen und Zeiträume, die Staatsangehörigkeit sowie Kontaktdaten, die Rückschlüsse auf die Person zulassen (z. B. eine Mail-Adresse mit einem Namen).
So einiges also, was sonst vielleicht als selbstverständlich wahrgenommen werden mag.

Darüber hinaus können aber auch andere Angaben in Bewerbungsunterlagen potenziell zu Diskriminierungen beitragen: Wehrdienst, Elternzeit, Zeugnisnoten oder Sprachkenntnisse, wenn es sich bei diesen nicht um die gängigen oder „angesehene“ Sprachen handelt.

Was genau im Bewerbungsverfahren anonymisiert werden soll, können Sie individuell entscheiden und auswählen. Grundsätzlich können Sie allerdings alles anonymisieren, was für die Ausübung der Tätigkeit irrelevant ist.

Dabei haben Sie die Auswahl zwischen den folgenden drei Methoden:

  • Standardisierte Bewerbungsformulare: Mit diesen können die erforderlichen Qualifikationen entweder online oder nach Download ausgefüllt werden.
  • Übertragung der Daten: Hierbei werden die Daten aus Bewerbungsunterlagen in ein neutrales Formular übertragen, entweder durch ein Programm oder Personen, die nicht in das anschließende Verfahren eingebunden sind.
  • Unkenntlich Machen der persönlichen Daten: Bei dieser Methode muss das bestehende Verfahren seitens der Bewerbenden nicht angepasst werden, allerdings entsteht danach ein höherer interner Aufwand und es kann beim Schwärzen leicht zu Fehlern kommen.

Pro …

  • Chancengleichheit und bessere Vergleichbarkeit: Ganz klar, ein anonymes Bewerbungsverfahren fördert gleiche Chancen und führt dazu, dass alle Bewerbenden die gleichen Voraussetzungen bei der Bewertung haben. Weil eben Vorurteile wegfallen und auch Personen eine reelle Chance haben, deren Unterlagen sonst direkt in „Ablage P“ landen würden. Außerdem können Sie die Bewerbenden besser vergleichen, wenn Sie sich auf das Wesentliche konzentrieren und das „Drumherum“ außer Acht lassen.
  • Das Wichtige rückt in den Vordergrund: Ganz objektiv betrachtet, ist es am Ende des Tages gleichgültig, welchen Namen jemand hat, ob jemand ein Kopftuch trägt, Elternteil ist oder ein Ihrer Ansicht nach langweiliges Hobby hat – Hauptsache, die Person ist geeignet, die offene Position auszufüllen und den Job gut zu machen. Und das können Sie am besten beurteilen, wenn Sie sich auf die Leistungen und Qualifikationen der Kandidat*innen konzentrieren.           
  • Vielfalt wird gefördert: Zahlreiche Studien belegen es: Arbeitgeber*innen stellen eher jemanden ein, der*die ihnen ähnlich ist als jemanden, der objektiv am geeignetsten für den Job ist. Das liegt am Ähnlichkeitsprinzip. Dabei wird auch immer wieder eines nachgewiesen: Diverse Teams sind erfolgreicher. Das ist nachvollziehbar, denn wenn Teams durchmischter sind, bringen die einzelnen Teammitglieder auch unterschiedliche Erfahrungen, Werdegänge und Stärken mit ein und sind breiter aufgestellt.
  • Der Recruiting-Prozess wird effizienter: Wenn alle Bewerbenden beispielsweise nur eine knappe Liste mit ihren Qualifikationen ausfüllen müssen, wird die Sichtung der Bewerbungsunterlagen einfacher und geht schneller vonstatten.

… und Contra eines anonymen Bewerbungsverfahrens

  • Aller Anfang ist schwer: Ganz klar, in Deutschland sind nicht-anonyme Bewerbungsverfahren der Standard. Auch klar: Dinge anders zu machen als der Großteil der Unternehmen, ist im ersten Moment mit Anlaufschwierigkeiten verbunden und mag auch auf Hürden stoßen – nicht nur bei Ihnen im Unternehmen, sondern auch bei den Bewerbenden. Bis sich anonyme Bewerbungsverfahren etabliert haben, werden Sie also sehr wahrscheinlich eher zu den bunten Hunden gehören.
  • Kein Schutz vor Diskriminierung: Auch wenn aus der Bewerbung nicht hervorgeht, dass die Bewerberin eine alleinerziehende, kopftuchtragende Muslima ist – spätestens im persönlichen Gespräch wird zumindest letzteres sofort ersichtlich und auch die familiäre Situation kann schnell erfragt werden. Hat der*die Recruiter*in dem gegenüber Vorurteile und lässt sich von diesen beeinflussen, ist die Bewerberin trotzdem aus dem Rennen – und das anonyme Bewerbungsverfahren führte letzten Endes zum gleichen Ergebnis wie ein nicht-anonymes.
  • Berufsanfänger*innen haben schlechtere Chancen: Auf dem Papier haben Berufsanfänger*innen weniger vorzuweisen als Berufserfahrene. In Bewerbungen und vor allem in Anschreiben haben sie oftmals die Möglichkeit, ihre persönlichen Stärken herauszustellen und auch die Bedeutung von Erfahrungen aus Hobby oder Ehrenamt auf die Stelle zu münzen. Mit einem anonymen Bewerbungsverfahren fällt dies weg und die Einsteiger*innen haben dadurch einen Nachteil.
  • Mehr Aufwand: Nicht nur für die Bewerbenden ist es mit einem Mehraufwand verbunden, ihre Unterlagen an ein anonymes Verfahren anzupassen, auch die Unternehmen müssen hier investieren: in neue Systeme, mehr Personal, in Umstrukturierung. Das ist mit zeitlichem und finanziellem Aufwand verbunden, den sich nicht jedes Unternehmen leisten kann oder will.

In Deutschland ist ein anonymes Bewerbungsverfahren bisher noch ein Nischenthema und wie alles hat es sowohl Vor- als auch Nachteile. Es gilt also abzuwägen, ob Sie die Kapazitäten und Ressourcen haben, eine Umstellung anzugehen und dann auch umzusetzen.

Natürlich wird ein anonymisierter Recruiting-Prozess Vorurteile und Diskriminierungen nicht vollständig aus der Welt räumen, sondern nur deren negative Auswirkungen in der ersten Phase des Prozesses verhindern. In Zeiten des Fachkräftemangels kann es jedoch auch eine Chance sein, neue Wege zu gehen und andere Verfahren auszuprobieren als bisher. Mit einem anonymen Bewerbungsverfahren können Sie sich zumindest in der Phase bis zu den Vorstellungsgesprächen neue Kandidatengruppen erschließen, die Sie sonst vielleicht schon im Voraus aussortiert hätten. Und eben auch einen Teil dazu beitragen, dass Vorurteile an Einfluss verlieren und Diskriminierungen weniger werden.

Schlüsselworte Recruiting, Wissen